Leben und Überleben am Niederrhein im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit

Leben und Überleben am Niederrhein im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Hiram Kümper / Monika Gussone, Lehrstuhl für die Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Universität Mannheim
Ort
Kalkar
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.12.2021 -
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Von
Monika Gussone, Lehrstuhl für die Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Universität Mannheim

Das die Tagung ausrichtende Teilprojekt „Niederrhein“ des DFG-Projekts „Kleinkredit und Marktteilhabe im Spätmittelalter“ ist an der Universität Mannheim angesiedelt und bearbeitet in drei vergleichenden Studien die Frage, ob Kleinkredit im Spätmittelalter dem großen Teil der in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen lebenden Menschen dauerhafte Marktteilhabe sichern konnte. Ausgehend von der Projektthematik sollte der Blick – aufgrund der Coronasituation in sehr kleinem Rahmen – auf andere Möglichkeiten gelenkt werden, die den wenig vermögenden Bevölkerungsschichten am Niederrhein halfen, ihren Lebensunterhalt im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit zu bestreiten. Menschen, die am Rande des Existenzminimums lebten, sahen sich infolge von Naturkatastrophen, Seuchen und anderen Krisen mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Vor allem nach solch einschneidenden Ereignissen, aber nicht unbedingt nur dann, waren zahlreiche Haushalte auf die Hilfsangebote der städtischen, kirchlichen und privaten Armenhilfe angewiesen. Wirtschaftliche Hilfe konnte auch in Form von günstigen Getreideverkäufen des Adels erfolgen, der sich immer auch zur Fürsorge für seine Untersassen verpflichtet fühlte. Insbesondere hing der wirtschaftliche Erfolg eines jeden jedoch von der Möglichkeit ab, Arbeit zu finden und zu behalten.

In ihrer Begrüßung stellte die Bürgermeisterin von Kalkar, Britta Schulz, die auffälligen Parallelen zwischen einzelnen mittelalterlichen Seuchen und Katastrophen, die auch das Niederrheingebiet betrafen, sowie der andauernden Pandemie und den Hochwasser-Ereignissen des Jahrs 2021 heraus, woran HEIKE HAWICKS (Heidelberg) inhaltlich mit ihrem Vortrag unmittelbar anschließen konnte. Sie betonte Parallelen zwischen den aktuellen Ereignissen und denen der Römerzeit, auch des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem aber den Katastrophen des 14. Jahrhunderts. Mithilfe naturwissenschaftlicher Methoden ließen sich Parallelen in der Großwetterlage – mit Extremhochwassern und aufeinanderfolgenden Zyklonen – feststellen sowie die damaligen Hochwasserstände berechnen. Im 14. Jahrhundert folgten zahlreiche Katastrophen teils rasch aufeinander: Der Pest, die 1349 das Niederrheingebiet erreichte, waren durch Nässe und Heuschreckenplagen verursachte Hungersnöte in den 1310er-Jahren vorausgegangen, als deren Folge Xantener Quellen steigende Preise und eine Zunahme von Hausverkäufen vermerkten. 1342 brachte die sogenannte Magdalenenflut, benannt nach dem Festtag der heiligen Magdalena am 22. Juli, die das Hochwasser von 2021 im selben Monat noch weit übertraf, besonders am Niederrhein große Zerstörung; sie ist in den Quellen präsenter als andere Unwetter. Interessant ist der Befund, dass dieses Hochwasser – wie auch ein weiteres im Jahr 1374 und die Pest von 1349 – sich auf die Xantener Urkundenproduktion auswirkten, die monatelang aussetzte. Weitere Reaktionen lassen die Quellen erkennen, etwa die vermehrte Stiftung von Altären, die Durchführung von Prozessionen, Bemühungen um den Verkauf hochwassergeschädigter Grundstücke an das Xantener Stift oder um den Erwerb von Ländereien, die vom Wasser entfernt lagen.

MARTIN W. ROELEN (Wesel) und MONIKA GUSSONE (Mannheim) widmeten sich mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten der Armenfürsorge in Wesel und Kalkar. So war es Roelens Anliegen, die Vielfalt der erhaltenen Quellen herauszustellen, die zur Erforschung der Armenpflege in Wesel, der größten Stadt des Herzogtums Kleve, herangezogen werden können, und zu zeigen, welche Arten von Informationen darin zu finden sind. Obwohl der größte Teil des Verwaltungsschriftguts bald kassiert und nicht überliefert worden sein dürfte, weisen beispielsweise bereits die als Teil der Stadtrechnungen überlieferten Steuerlisten des 14. Jahrhunderts einige wenige Personen als arm aus, und Listen mit geforderten Zahlungen für die Ummauerung der Mathenavorstadt zeigen, wer nicht zahlungsfähig (oder -willig) war. Die Stadt, in deren Zuständigkeit die Armenversorgung hauptsächlich fiel, war gut über die Zahl der verschämten Armen oder Hausarmen informiert. Neben der städtischen Verwaltung, den Hospitälern für Fremde (Johannishospital) und Einwohner (Heilig-Geist-Spital) und den Pfarrkirchen waren aber auch Bruderschaften in die Armenpflege involviert. Seit den 1440er-Jahren nahm die Zahl der privaten Armenstiftungen zu, die meist lange bestanden und teils noch heute existieren. Gestiftete Wohnungen für die Hausarmen wie auch feste Spendentermine oder Pflegeschwestern lassen insgesamt eine gute Kenntnis der Stifter über die Armenversorgung in der Praxis erkennen. Solche Stiftungen, dies lässt sich für Wesel wie für Kalkar sagen, stellten Lebensmittel, Kleidung, Brennstoff und auch anderes zur Verfügung und scheinen nicht selten auf diese Weise erkannte Mängel ausgeglichen zu haben. Die Struktur der Weseler Armenversorgung wurde durch die Reformation stark verändert, während sie in Kalkar im Wesentlichen unverändert blieb.

Monika Gussone konzentrierte sich auf die finanziellen, administrativen und rechtlichen Aspekte der Armenfürsorge in der – nach mittelalterlichen Maßstäben – knapp mittelgroßen Stadt Kalkar während des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts. Zum städtischen Hospital, das ursprünglich Reisende, Pilger, Kranke und Alte gemeinsam versorgt hatte, kamen bis ca. 1500 drei weitere Einrichtungen hinzu: ein Melatenhaus und zwei Armenhöfe. Auch in Kalkar ließ sich also die auch anderswo zu beobachtende Spezialisierung in der Versorgung Bedürftiger erkennen. Obwohl die beiden Armenhöfe, in denen nur nach bestimmten Kriterien ausgewählte Hausarme Aufnahme fanden, zunächst private Stiftungen waren, unterstanden auch sie bald den Kalkarer Armenprovisoren, die außerdem auch für die restlichen städtischen Armen zuständig waren. Die Armenversorgung finanzierte sich zu einem großen Teil aus gestifteten und selbsterworbenen Renteneinkünften, daneben aber auch aus Pachteinnahmen von den Besitzungen der „Armen“. Regelmäßige Zahlungseingänge mussten angestrebt und Ausfälle möglichst vermieden werden. Entsprechend deutlich lässt die Armenordnung aus dem Jahr 1443 erkennen, dass im Bereich der Armenfürsorge Großzügigkeit den eigenen Schuldnern gegenüber im Normalfall nicht möglich war und ausstehende Beträge nachdrücklich eingefordert werden mussten.

Der Vortrag von JULIA EXARCHOS (Aachen) musste krankheitsbedingt ausfallen, soll aber, wie auch die anderen Beiträge der Tagung, in einem Sammelband veröffentlicht werden. Ihr Beitrag behandelt die Integration der unteren sozialen Schichten in die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Wirtschaft. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie diese Gruppen ihr Auskommen sichern und auf welche Strukturen und Mittelspersonen sie zurückgreifen konnten. Anhand der Organisation von Pfändungen und Handelsgeschäften geht der Beitrag der Vielfältigkeit der Organisationsformen und Strukturen, in denen sich die unteren sozialen Schichten bewegten, in den Städten Köln, Kalkar, Wesel und Dinslaken nach. Auf der Basis von primär normativen Quellen wie Verordnungen und Edikten, aber auch von Testamenten und Akten des Handels zeigt der Vergleich der Städte eine Diversität in der Organisation von Pfändungen und der Vermittlung und Kontrolle von Handelsgeschäften. Während in Köln und auch in anderen größeren Städten des Reichs bestellte Experten und Expertinnen, die Keuffer oder Keufferschen, bei Pfändungen hinzugezogen wurden, sind diese für Kalkar, Wesel und Dinslaken nicht belegt. In den drei niederrheinischen Städten übernahmen andere Gruppen oder Personen diese Aufgaben – ein ähnlicher Befund wie bei Handelsgeschäften –, was den Ablauf der Pfändungen jedoch nicht weniger effektiv werden ließ.

FRIEDERIKE SCHOLTEN-BUSCHHOFF (Münster/Möhnesee) befasste sich, ausgehend von Rechnungsschriftgut, das sie durch Informationen aus Korrespondenzen, Protokollen, Tagebüchern und weiterem Quellenmaterial ergänzte, mit verschiedenen Fragen zum adligen Wirtschaften, insbesondere am Beispiel der Freiherren von Loë auf Schloss Wissen in Weeze, deren Einkünfte zu mehr als 50 Prozent aus Getreide erwirtschaftet wurden. Unter Anwendung quantitativer Methoden – da adlige Rittergüter komplexe wirtschaftliche Einheiten waren – sprach sie die Fragen nach einem speziellen adligen Wirtschaftsstil, den Beziehungen des Adels zum Markt, seinem Spekulationsverhalten und seinem Beitrag zur Marktintegration an. Schwerpunktmäßig untersuchte der Vortrag, wie sich der Adel in wirtschaftlicher Hinsicht den Untersassen gegenüber verhielt und wo er sich zwischen den Polen Gewinnmaximierung und Fürsorgeverpflichtung positionierte. Auf dem Land waren, anders als in der Stadt, wo es Märkte und zentrale Vorratseinrichtungen für Notzeiten gab, die adligen Güter mit ihren Speichern Anlaufstellen für den Kauf von Getreide. Selbst in stadtnahen Herrschaften mit guter Marktanbindung überwog der Verkauf von Getreide am Schlosstor an die Bevölkerung der näheren Umgebung an bis zu drei angekündigten Terminen pro Jahr zu durchweg deutlich geringeren als den gängigen Marktpreisen. Hierin wie auch in Pachtstundungen oder in kostenlosen Getreideabgaben an Arme zeigte sich, dass die Fürsorgepflicht höher gewertet wurde als das Streben nach maximalem Gewinn.

HIRAM KÜMPER (Mannheim) behandelte das Thema Schulden aus einer rechtlichen Perspektive. Er bezog sich insbesondere auf die entsprechenden Regelungen im Sachsenspiegel, dem im Mittelalter weitverbreiteten und immer wieder ergänzten Rechtsbuch Eike von Repgows, und stellte auf diese Weise eine Verbindung zwischen dem oben erwähnten DFG-Projekt und dem Tagungsort her, dessen Archiv über eine verkürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des Sachsenspiegels verfügt – höchstwahrscheinlich bereits seit dem 15. Jahrhundert. Für das Thema der Tagung war vor allem die Erkenntnis zentral, dass sich mit der Urbanisierung und der Trennung von Land- und Stadtrecht das Schuldrecht überhaupt erst langsam aus dem Strafrecht heraus zu einem eigenständigen Rechtsgebiet entwickelte. Erst seit dem 12. Jahrhundert bildete sich in den Städten ein Schuldrecht aus, da Handelstätigkeit zugleich Kreditbeziehungen und zunehmendes Gewerbe vertraglich regulierte Arbeit nach sich zogen, sodass Rechtsgrundlagen und geregelte Verfahrensabläufe benötigt wurden. Der Sachsenspiegel mit seinem noch wenig entwickelten, aber bereits als eigenständig erkennbaren Schuldrecht lasse den Wandlungsprozess erkennen, da er sowohl alte Formen der Selbsthilfe als auch neue Verfahren des entstehenden Schuldrechts aufführe, etwa das Verfahren des sogenannten Einlagers, bei dem ein Schuldner, oft mit Begleitern und Pferden, im Fall von Zahlungsverzug in ein Gasthaus ziehen, dort bis zur Schuldbegleichung wohnen und die Kosten für den Aufenthalt tragen musste.

Die Tagung konnte angesichts des engen Zeitrahmens und der überschaubaren Zahl an Referent:innen nur einen Einblick in die Lebenssituation und die Unterstützungsangebote im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit am Niederrhein bieten. Es ist jedoch zu wünschen, dass Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungen und Anregungen zur näheren Beschäftigung mit der Thematik, speziell auch mit Bezug zum Niederrhein, gegeben werden konnten.

Konferenzübersicht:

Sektion I
Moderation: Monika Gussone (Mannheim)

Monika Gussone (Mannheim): Begrüßung und Einführung

Britta Schulz (Bürgermeisterin von Kalkar): Begrüßung

Heike Hawicks (Heidelberg): Magdalenenflut und Schwarzer Tod am Niederrhein. Krisen, Katastrophen, Krankheiten und ihre wirtschaftlichen Folgen im 14. Jahrhundert

Sektion II
Moderation: Ingo Runde (Heidelberg)

Martin W. Roelen (Wesel): Sozialfürsorge im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wesel (1300–1530) – die Quellenlage

Monika Gussone (Mannheim): Finanzierung und Organisation der Armenversorgung im spätmittelalterlichen Kalkar

Sektion III
Moderation: Hiram Kümper (Mannheim)

Julia Exarchos (Aachen): Arbeit, Armut und Integration. Die wirtschaftliche Einbindung der arbeitenden Armen im spätmittelalterlichen Rheinland

Friederike Scholten-Buschhoff (Münster/Möhnesee): Zwischen Paternalismus und Gewinnmaximierung. Adelige Gutsbesitzer als Getreideverkäufer

Abendvortrag

Hiram Kümper (Mannheim): Einblick in die Ausstandsgesellschaft. Schulden im Kalkarer Sachsenspiegel und anderen mittelalterlichen Rechtsaufzeichnungen


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